Bericht zur Befragung zu coronabedingten Nachteilen
„Hier geht es schlicht und ergreifend um meine berufliche Zukunft.“
So war es zu lesen unter den Meinungsäußerungen, um die der Gleichstellungsbeirat gebeten hat. Wir wollten besser verstehen, wie sich die Pandemie und die daraus resultierenden Einschränkungen auswirken – ganz konkret. Speziell beim wissenschaftlichen Nachwuchs hat uns interessiert, inwieweit Forschungsvorhaben weitergeführt werden konnten, ob und wie die weitere wissenschaftliche Qualifikation beeinträchtigt war und wie sich ggf. die Arbeitsaufgaben mit der plötzlich weggefallenen Kinderbetreuung vereinbaren ließen. Dort, wo es Lehraufgaben gibt, wollten wir wissen, was sich verändert hat und wo es zu mehr oder weniger Aufwand durch virtuelle Lehr- und Prüfungsformate gekommen ist. Wie macht sich die Pandemie in Arbeitssituationen bemerkbar in den Bereichen, die für die weitere akademische Laufbahn wichtig sind?
Was hat uns motiviert?
Unsere Diskussion begann im Jahr 2020 u.a. mit einem offenen Brief von European Women in Mathematics zu Auswirkungen der Pandemie auf den wissenschaftlichen Nachwuchs. Die Motivation für den Brief und den seitdem regelmäßigen europaweiten Austausch zum Thema wurzelte in der Befürchtung, dass in den Fächern, in denen Frauen sowieso schon stark unterrepräsentiert sind, die Gleichstellungsbemühungen der letzten Jahrzehnte wieder zunichtegemacht werden könnten.
Nach ausführlichen Gesprächen im Gleichstellungsbeirat wurde klar, dass es Probleme gibt, dass wir aber nur über anekdotisches Wissen verfügen.Einerseits sind die Beschäftigten an einer Universität vergleichsweise privilegiert, auch mit einer befristeten Stelle, im Vergleich zu manchen anderen Berufsgruppen, die sofort und in sehr dramatischer Weise von der Pandemie betroffen waren. Andererseits sind die gleichen Probleme, die überall sichtbar werden, sobald bei Berufstätigen eine zuverlässige Kinderbetreuung wegfällt, auch im Mikrokosmos Universität deutlich zutage getreten. Es war unklar, wie groß und weitreichend die Auswirkungen und Herausforderungen sind, welche Bedarfe es gibt, und wo wir konkret helfen können. Je mehr sich abzeichnete, dass sowohl die Krankheit Covid-19 als auch die Einschränkungen in unserem Alltag über das Jahr 2020 hinaus relevant bleiben, desto mehr hat uns interessiert, ob und wie der wissenschaftliche Nachwuchs im Arbeitsalltag eingeschränkt ist. Können Forschungsvorhaben wie geplant durchgeführt werden? Ist die weitere wissenschaftliche Qualifikation beeinträchtigt? Wie ließen sich im Frühjahr 2020 die Arbeitsaufgaben mit der plötzlich weggefallenen Kinderbetreuung vereinbaren? Wie ist die Situation jetzt? Wie haben sich die Lehraufgaben verändert? Wo kam es zu mehr oder weniger Aufwand durch virtuelle Lehr- und Prüfungsformate? Wie macht sich die Pandemie bemerkbar in den Bereichen, die für die weitere akademische Laufbahn wichtig sind, z.B. bei Drittmittelanträgen, Publikationen und Konferenzen? Wie unterscheiden sich die Auswirkungen in den verschiedenen Fächern, Karrierestufen, je nach Finanzierung der Stelle, nach Familiensituation, konkretem Arbeitsumfeld? Je länger die Pandemie andauert, desto wichtiger werden auch die Fragen nach unserem zukünftigen Umgang mit akademischen Lebensläufen, in denen Auswirkungen der Pandemie sichtbar sind. Wie werden sich zukünftige Stellenbesetzungs- und Berufungskommissionen dazu verhalten?
Wen, wie und was haben wir gefragt?
Weder die Befragung selbst noch die Auswertung genügen den Standards sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. Das Ziel war nicht, repräsentative Daten zu bekommen, sondern überhaupt Informationen zu sammeln, die über anekdotenhaftes Wissen hinausgehen. Wir haben nicht neutral gefragt, sondern durchaus problemorientiert und bewusst offen formuliert. Unsere konkrete Abfrage zum Thema erfolgte am 20./21.4.2021 per Mail an alle Nachwuchswissenschaftler*innen an der MLU Halle-Wittenberg, die wir per E-Mail erreichen konnten. Wir haben diverse Verteiler und Multiplikator*innen genutzt wie bspw. Dekanate, die dort arbeitenden Referent*innen, das Gleichstellungsbüro, die InGrA, das Familienbüro, die Mitglieder des Gleichstellungsbeirats selbst, den Mittelbauverteiler in der Pädagogik, das Prorektorat für Personalentwicklung und Struktur sowie die Empfängerinnen von Frauenfördermitteln. Zusätzlich haben wir die Vorgesetzten angeschrieben und auf die Relevanz der Befragung hingewiesen.
Hier sind die Fragen:
Welche Einschränkung haben Sie erlebt?
Welche Unterstützung hätten Sie sich wann gewünscht?
Was hat Ihnen geholfen?
Wie kann die Universität jetzt und konkret unterstützen?
Was benötigen Sie in jedem Falle?
Es gab mehrere Möglichkeiten, sich zurückzumelden und von Erfahrungen zu berichten oder Fragen zu stellen, und mit dem digitalen Arbeitsraum Mural war ausdrücklich eine Variante vorgesehen, bei der man sich anonym äußern konnte. Das Stichwort dabei war „Was hilft mir?“.
Was haben wir erfahren?
Es gingen 21 schriftliche Antworten per E-Mail ein, die teilweise sehr ausführlich waren und uns daher wertvolle Einblicke in die aktuelle Situation der Wissenschaftler*innen gaben. Mehr als 130 Wortmeldungen erreichten uns über Mural . Für die Auswertung haben wir die Antworten gelesen und dabei Themenkomplexe und Handlungsfelder identifiziert, auf die wir später in diesem Bericht eingehen werden. Zunächst möchten wir Sie aber an den Antworten, die Sie uns gegeben haben, teilhaben lassen.
Die folgenden Auszüge aus E-Mail-Antworten weisen auf konkrete Schwierigkeiten hin:
„Home-Office mit Kita-Kind und Home-Office mit gleichzeitigem Home-Schooling sind eine schöne Vision, funktionieren aber einfach nicht adäquat […].“
„Die größten Einschränkungen betreffen drei Bereiche: Forschung, Vernetzung/Profilierung und Lehre. […] Diese drei Säulen sind objektive Belastungen, wodurch mein Qualifikationsziel im vergangenen Jahr nicht zufriedenstellend vorangeschritten ist.“
„Der Universitätsbetrieb wurde auf Kosten unserer Zeit und unserer Qualifikation aufrechterhalten.“
„Das ganze Verschriftlichen & Digitalisieren ging dann alles irgendwie mit zeitlichem Mehraufwand, aber die Qualität der Ausbildung, insbesondere die Praxis, leidet enorm.“
„Phasenweise bin ich morgens um 4 Uhr aufgestanden, habe bis ca. 7 Uhr intensiv gearbeitet, dann meine 2 schulpflichtigen Kinder durch den Vormittag gebracht mit Homeschooling (inkl. Essen kochen etc.), um dann ab vllt 14 Uhr wieder das Arbeiten anzufangen.“
„Ich habe in meiner […]-Wohnung kein Schlafzimmer mehr, da ich dieses in ein Arbeitszimmer umgestaltet habe […].“
„Wir [befristete Angestellte] haben unsere Promotions- und andere Qualiprojekte auf die lange Bank geschoben und dafür bekommen wir keine Anerkennung.“
„Ich bewege mich seit einem Jahr knapp an der Grenze zum Burnout, weil ich den Ansprüchen an mich von allen Seiten nicht gerecht werden kann. Es ist nicht möglich, gleichzeitig zu arbeiten und seine Kinder zu beschulen und ihnen zu helfen all diese unfassbar vielen Schulaufgaben zu bearbeiten.“
„Die Grenze zwischen ´normalen´ Arbeitstagen und WE ist nicht mehr vorhanden.“
„Für das WiSe 20/21 und das SoSe 21 hätten viel früher klare Ansagen gemacht werden können, statt aller 3 Wochen bestehende Maßnahmen zu verlängern. Dies gilt auch für das kommende Semester.“
Obwohl wir problemorientiert gefragt haben, gab es auch positive Zwischentöne. Es wurde zum Beispiel Dank ausgesprochen an Betreuer*innen, das kollegiale Umfeld und an das LLZ. Das Homeoffice, die freie Zeiteinteilung und sogar die virtuelle Lehre haben einige als Vorteile wahrgenommen.
„Es wäre hilfreich und entlastend, wenn wir nach Corona weiter digital prüfen dürften.“
„Ich möchte auch auf keinen Fall meckern, schon gar nicht über die Kolleginnen und Kollegen in ´der Verwaltung´. Ich hätte ein paar Vorschläge, wie es leichter ginge.“
Mehrmals wird die Zukunft im akademischen Umfeld explizit in Frage gestellt. Folgende Antwort auf die Frage nach nötiger Unterstützung weist bereits drauf hin, dass wir uns noch einige Jahre lang mit den Auswirkungen der Pandemie befassen müssen:
„Eine ausführliche Rechtfertigung, dass eine Arbeit im Lockdown mit Kindern nicht so möglich ist, wie normal, erscheint mir überflüssig. Die Zeit, die ich in solche bürokratischen Schikanen stecken muss, fehlt mir im Aufholen der wissenschaftlichen Leistungen, die die kinderlose Konkurrenz im Rennen um Professuren leisten konnte.“
„Stellensicherheit! Automatische Verlängerung um ein Jahr! Mein Vertrag läuft nächstes Jahr aus. Was ist, wenn sich keiner mehr im Personalamt an die dramatische Situation erinnert, wenn ich dann mit dem Antrag auf Verlängerung komme?“
Wir vermuten, dass viele der Äußerungen, die wir gelesen haben, stellvertretend sind für zahlreiche weitere Erfahrungen, Wünsche und Verbesserungsvorschläge. Es wurde deutlich das Bedürfnis formuliert, über die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses zu sprechen, die Probleme deutlich zu benennen und die vorhandenen Lösungen bekannter zu machen bzw. neue Lösungen dort zu entwickeln, wo es noch Bedarf gibt. Begleitet wird die an der MLU laufende Diskussion durch einen Austausch mit Kolleg*innen von anderen Universitäten, Gespräche über Unterstützungsangebote anderswo und damit auch die Einordnung in einen größeren Kontext: Welche Konsequenzen der Pandemie sind fach- und standortunabhängig? Welche Probleme werden am häufigsten benannt oder als besonders drängend empfunden? Was für Lösungsansätze gibt es, was für weitere Ideen haben wir und wo enden unsere Einfluss- und Unterstützungsmöglichkeiten?
Bevor wir näher auf die Antworten und auf den Stand der Diskussion eingehen, möchten wir die Gelegenheit nutzen und uns bedanken.
Danke, liebe Kolleg*innen, dass Sie sich trotz der großen Belastungen Zeit genommen haben, um uns zu antworten. Aufgrund Ihrer Erfahrungsberichte, Ihrer Fragen und vieler konkreter Vorschläge verstehen wir jetzt besser, was es für Herausforderungen und Wünsche gibt.
Wie geht es weiter?
Der Beirat für Gleichstellung hat sich in seinen Sitzungen am 7. Juni 2021 und am 22. November 2021 mit den Ergebnissen der Umfrage befasst und Handlungsoptionen diskutiert. Die in den E-Mail-Antworten und im Mural angesprochenen Probleme und Lösungsmöglichkeiten sollen jetzt differenziert aufgegriffen und diskutiert werden, denn so können wir klar herausarbeiten, an welchen Stellen jetzt bereits unterstützt werden kann und ggf. die Informationen dazu noch besser vermittelt werden müssen, wo wir schnell zusätzliche Angebote schaffen können und auch, wo wir leider an die Grenzen unserer Möglichkeiten stoßen. Im Ergebnis der Auswertung wurde u.a. deutlich, dass es bereits eine Vielzahl von Angeboten an der MLU gibt, die unterstützend für die Beschäftigten und insbesondere den wissenschaftlichen Nachwuchs, zur Verfügung stehen. Diese Angebote müssen jedoch verstärkt kommuniziert bzw. ausgebaut und weiterentwickelt werden.
Die Themen, die Sie uns benannt haben, und mit denen wir uns weiter beschäftigen, sind sehr vielfältig:
- Mitarbeiter*innen fühlen sich im Stich gelassen / nicht ausreichend betreut bzw. informiert
- fehlende Unterstützung der Uni bei Kinderbetreuung
- hohe psychische Belastung bei Wissenschaftler*innen
- große Unsicherheit wegen auslaufender Verträge und unklarer Verlängerungsmöglichkeiten
- IT-Infrastruktur nicht ausreichend bzw. ausbaufähig
- finanzieller Ausgleich und Ausgleich durch mehr Urlaubstage wegen Mehraufwand
- generelle Umstellung bringt zu viel Mehraufwand
- Intransparenz bzgl. aktueller Maßnahmen und Einschränkungen
- fehlende Möglichkeiten der persönlichen Kommunikation / zu viel digital (z. B. bei Neuanstellung)
- Eingeschränkte Bibliotheksnutzung / eingeschränkter Zugang zu Quellen
- zu starre Vorschriften, fehlende Flexibilität, hohe bürokratische Hürden
- mangelnde Informationsbereitstellung
- mangelndes Vertrauen in das Verantwortungsbewusstsein der Mitarbeiter*innen in Bezug auf den Umgang mit Coronamaßnahmen.
Die zwei großen Arbeitsfelder, die wir sehen, sind interne Kommunikation sowie Unterstützungs- und Beratungsangebote.
Der Gleichstellungsbeirat hat sich zu Unterstützungsmaßnahmen verständigt, die in den eigenen Bereich der Zuständigkeit fallen. Die weiteren Rückmeldungen, die in die Zuständigkeit anderer Akteur*innen fallen, tragen wir an diese Stellen weiter. Manche Themen können über die Stabsstelle Vielfalt und Chancengleichheit aufgegriffen und besprochen werden. Insbesondere werden wir die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses bei der Re-Auditierung zur familiengerechten Hochschule sichtbar machen, und es gibt mehrere konkrete Ideen, die Eingang in das Handlungsprogramm für die nächsten drei Jahre finden sollen. Da es in vielen Themenfeldern bereits Handlungsoptionen gibt, werden wir immer wieder an die Vorgesetzten appellieren, aufmerksam für die Herausforderungen im eigenen Arbeitsumfeld zu bleiben. Gerade dann, wenn Professor*innen selbst stark von den Einschränkungen durch die Pandemie betroffen sind, hoffen wir auf Verständnis für die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses und auf gemeinsame Anstrengungen, um die Herausforderungen zu bewältigen.
Wichtig ist uns an dieser Stelle: Keines der angesprochenen Themen geht verloren, wir werden alles weiterverfolgen und ggf. konkret weitergeben an die zuständige Stelle. Und wir wünschen uns nachdrücklich, dass die vorhandenen Unterstützungsangebote in Anspruch genommen werden, über die Erfahrungen gesprochen und das Wissen weitergetragen wird.